Mariabuchen

 
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Pilgern oder Leben auf dem Standstreifen

Warum steigen Menschen auf hohe Berge?
Gefährden manchmal Leib und Leben?
Da hört man die Antwort: weil sie da sind.
Warum laufen Menschen auf alten historischen Pfaden?
Durch menschenleere Landschaften?
Bei brütender Hitze oder peitschendem Regen?
Über zwanzig Kilometer am Tag.
Die Antwort ist einfach:
Weil es die Pfade gibt.
Weil sie da sind.
Als Wege, die Regionen in Europa verbinden.
Und als Zeichen.
Zeichen für ein Leben jenseits dessen, was vertraut und bekannt ist.
Jenseits dessen, was geplant, organisiert, versichert werden kann.
Zeichen für ein Leben, von dem Mann und Frau noch etwas erwartet.
Seit Jahrhunderten brechen Menschen auf.
Früher noch mehr als heute.
Sie nehmen eine Auszeit.
Unterbrechen ihre Tagewerk.
Und nähern sich einem bedeutenden Ort zu Fuß.
Mit Rucksack und Pilgerstab.
Voller Hoffnung auf ein Gelingen.
Schinderei und Qual denken die einen.
In-Sich-Selbst-Hineinhorchen-Können die anderen.
Heute noch zur Vergebung der Sünden?
Als besonderes religiöses Erlebnis?
Oder doch mehr als sportliche Herausforderung?
Oder als Kulturtripp für diejenigen, die sich's leisten können?
Ist die Antwort so wichtig?
Muß das wirklich ganz geklärt sein?
Kann es das überhaupt?
Lassen wir das Fragen.
Der Weg ist das Ziel.
Zum fernen Rom.
Oder auch nach Santiago de Compostela im spanischen Galizien.
Zum Grab des Apostels Jakobus.
Ein mittelalterlicher Mythos.
Legende für das einfache Volk.
Um Mut zu machen im Kampf gegen die Mauren.
Die Araber als Herren über das katholische Spanien?
Religionskrieg in der Steppe Iberiens.
Dialog der Religionen.
Unter den Gelehrten gewiß.
Man respektiert sich und lernt voneinander.
Wo stände Europa heute ohne den Einfluß des Islam und der Araber?
Was würden wir morgens trinken ohne Kaffee?
Wer hätte etwas von Aristoteles erfahren?
Wie sähen unsere Kirchen aus ohne die Vorbilder aus dem Orient?
Kultureller Austausch auf höherem Niveau.
Zum Wohle des sogenannten "christlichen Europas".
Aber die Analphabeten, die Bauern, der Mann auf der Straße?
Die brauchten fesselnde Geschichten, fantastische Legenden.
Was war nun wirklich?
Was kann ich glauben?
Die Geschichte ist bekannt:
Das Grab. Der Weg. Die Stadt. Die Pilger. Die Mächtigen. 
Die Sultane und Fürsten. Soldaten, Schriftgelehrte und Denker.
Aber was ist ursprünglich, was verklärt?
Welche Rolle spielt das?
Jakobsweg. Sternenpfad. 
Ziel am Rand und Ende Europas.
Am rauschenden Atlantik. 
Jakobsweg.
Eine Wanderung auf alten Pfaden.
Auf den Spuren der Pilger aus längst vergangenen Zeiten.
Das ist die Wirklichkeit.
Erlebbar. Erfahrbar. Begreifbar.
Vorbei an verwunschenen kleinen Weilern.
Bedeutenden romanischen Klöstern und Kirchen.
Gemeinsam Unterwegs-Sein mit anderen Pilgerinnen und Pilgern.
Sich über Gott und die Welt unterhalten.
Freundschaften schließen.
Übernachten in den Herbergen am Weg.
Obdach und Schutz in der Nacht.
Zusammen essen, singen, lachen.
Zusammen Wäsche waschen, 
Route planen, Infos austauschen.
Der Weg ist das Ziel.
Menschen unbefangen begegnen.
Sich gegenseitig unterstützen.
So sollte es immer sein.
Jakobsweg. Pilgerweg.
Oft über Hunderte von Kilometern dem Wind und Wetter ausgesetzt.
Und auf die Gastfreundschaft der Menschen am Wege angewiesen.
Mentalitäten und Charaktere.
Menschen leben am und vom Jakobsweg.
Oder sind sie vielleicht nur Kulisse für Selbsterfahrungstripps?
Pilgern heißt Sich-Auf-den-Weg-Machen. 
Bekanntes und Vertrautes hinter sich lassen.
Und Neuland betreten.
Mit einem Ziel vor Augen.
Pilgern ist Leben auf dem Standstreifen.
Keine Hetze. Kein Getrieben-Sein von Terminkalender und Telefon.
Nicht auf der Überholspur.
Nach dem Motto: Lieber kurz und intensiv als lang und langweilig.
Ist das die Alternative?
Leben auf dem Pilgerpfad. Wünsche und Hoffnungen.
Nur am Abend die Herberge erreichen. 
Ein festes Dach über dem Kopf.
Es vor dem Gewitter noch schaffen. 
Leben auf dem Standstreifen.
Pilgern bedeutet, sich für Dinge um sich herum Zeit nehmen.
Beobachten und Bewahren.
Die Landschaften in sich aufsaugen. 
Sich einer Blüte am Wegesrand mit Ehrfurcht nähern.
Den Bildern auf dem Portal einer Kirche nachgehen. 
Pilgern ist Wahrnehmen alles dessen, was um mich herum ist.
Sich Zeit-Nehmen für das Schöne in unserer Welt.
In fremde Gesichter schauen.
Sich in einer anderen Sprache verständlich machen.
Und Bauwerke voller Geschichte besuchen und studieren.
Der Weg ist das Ziel.
Pilgern oder Leben auf dem Standstreifen.

 
(von Roland Jourdan, geschrieben im Januar 2002 vor dem Aufbruch in Richtung Saint-Jean-Pied-de-Port Mitte April 2002, und dann glücklich Mitte Mai 2002 in Santiago angekommen ... Ultreia)

 

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